Langsam legt sich die Dunkelheit und mein Sichtfeld wächst über den Lichtkegel der Stirnlampe hinaus. 80 Kilometer habe ich bereits hinter mir gelassen, weitere 20 liegen noch vor mir. Eigentlich ein Klacks, doch mit jedem Schritt jagen Schmerzen durch meinen ganzen Körper, die mit Worten nur noch schwer zu beschreiben sind. Wie schön wäre es jetzt einfach stehen zu bleiben, doch ans Aufgeben verschwende ich noch keine Gedanken. Noch nicht. Soviel steht jedoch fest, heute Nacht wird meine Willenskraft auf ihre bisher größte Probe gestellt.
Schon seit einigen Stunden liege ich wach im Bett. Die Aufregung ist zu groß um nochmal einzuschlafen. Die Ungewissheit über die bevorstehende Nacht lässt mir keine Ruhe. Fast schon erleichtert steige ich aus dem Bett, als der Wecker um 9:00 Uhr endlich klingelt.
Mein Tagesablauf ist bis in kleinste Detail minutengenau geplant. Der erste Punkt, den ich sogleich in Angriff nehme, ist das Frühstück. Damit werden die über Nacht geleerten Glykogenspeicher in der Leber wieder aufgefüllt, zu späterer Stunde werde ich jedes einzelne Kohlenhydrat benötigen. Wie an Wettkampftagen üblich setze ich auf den altbewährten Haferbrei, für Experimente ist heute kein Platz. Auf die geliebte Tasse Kaffee muss ich jedoch verzichten, denn ich bin schon seit einer Woche auf Koffeinentzug. So lässt sich die aufmunternde Wirkung von Koffein wieder herstellen, wenn man so wie ich ein Kaffeejunkie ist und sich bereits eine gewisse Immunität entwickelt hat.
Die Tageszeitung lege ich ungelesen beiseite, dafür ist keine Zeit. Erneut gehe ich bereits zum Xten Mal meine Checkliste durch, bevor ich die Ausrüstung in meiner Tasche verschwinden lasse. Sicher ist sicher…
Fast zeitgleich mit der Ankunft von Thomas schließe ich den Reisverschluss meiner Sporttasche, die anschließend im Kofferraum verschwindet. Geduldig warten wir jetzt noch auf die letzten Reisebegleiter. Die backen derweil noch munter im Backofen vor sich hin, denn ihre Bräune lässt noch etwas zu wünschen übrig. Nachdem ich mir beim Herausnehmen der Laugenstangen meine Finger am Backblech verbrannt habe, kann es endlich losgehen.
Gehorsam folgt Thomas den Befehlen des Navigationssystems, das uns durch die abgelegensten Ecken Frankreichs leitet. Vielleicht war es keine so gute Idee bei der Routenwahl „kürzeste Route“ zu wählen… Es rollt überhaupt nicht, eine Baustelle jagt die nächste und wenn mal keine Baustelle in der Nähe ist, behindern LKWs oder Traktoren den Verkehr. Zum Glück ist für den Hunger vorgesorgt, denn wir sind bis auf die Zähne mit allerlei Leckereien bewaffnet. Ich beschränke mich jedoch auf Laugenstangen und Kekse, die BiFis und Apfeltaschen die mir Thomas anbietet, lehne ich mit Rücksicht auf meine nervöse Verdauung dankend ab. Gerade rechtzeitig, bevor unsere Nahrungsmittelvorräte zu Neige gehen, erreichen wir Biel. Zwar zwei Stunden später als geplant, doch immer noch früh genug. Trotz Verspätung finden wir prompt einen freien Parkplatz in Startnähe, einer der Letzten, wohlgemerkt.
Ohne zu trödeln machen wir uns auf den Weg zum Kongresshaus um unsere Startnummern abzuholen. Alles funktioniert schnell und reibungslos. Uns bleibt noch ausreichend Zeit um die verschiedenen Stände diverser Sportartikelhersteller zu begutachten, bevor ich mich um neun Uhr vorerst von Thomas verabschieden muss. Leider dürfen die Radbegleiter beim Start nicht dabei sein, vermutlich wäre das Gedränge dann zu groß. Erst bei km 22 wird Thomas in das Rennen einsteigen.
Bis zum Start ruhe ich mich noch etwas in Startnähe aus. Langsam spüre ich, wie mich die Müdigkeit einholt. Dabei stelle ich mit Erschrecken fest, dass die Koffeintabletten, die mir vor dem Start noch eine Portion Energie verschaffen sollten, noch im Auto liegen. Den Schlüssel hat Thomas, der mittlerweile bereits über alle Berge ist. Eine Woche Kaffeeverzicht für die Katz….
Um halb Zehn versammeln wir Läufer uns hinter der Startlinie. Ich bin aufgeregt und etwas ängstlich zugleich. Werde ich die Nacht besiegen? War der Anreisetag vielleicht etwas zu viel für mich? Ich habe keine Ahnung. Das Warten im Startblock kommt mir vor wie eine halbe Ewigkeit. Endlich, die letzte Minute des Countdowns ist angebrochen.
Kawumm! Mir scheint als wäre nicht nur die Distanz riesig, sondern auch die Startpistole. Ein lauter Knall eröffnet die Jagd, die erst am nächsten Morgen ihr Ende finden wird. Begleitet von dem Song „Tage wie diese“ von den Toten Hosen laufen wir in die Nacht hinein. Die ersten Kilometer führen uns durch die Straßen von Biel. Der Straßenrand ist übersäht von Zuschauern, die uns mit ihren Jubelschreien Mut machen. Trotz dem ganzen Spektakel fühle ich mich müde und schlaff. Mein Puls ist höher als gewohnt bei diesem Tempo. Schweißperlen laufen mir durchs Gesicht, es ist sehr warm und die Luftfeuchtigkeit ist sehr hoch. Was für ein Start…
6 Kilometer sind geschafft, da kommt auch schon der erste Anstieg. 85 Höhenmeter, verteilt auf 2,5 km, stehen mir bevor. Bewusst schalte ich einen Gang zurück um meine Muskeln nicht schon in diesem frühen Stadium müde zu machen.
Meine Ernährungsstrategie geht anfangs nicht ganz auf, denn ohne Flüssigkeit kann ich keine Energiegels aufnehmen. Ohne Thomas muss sich meine Kalorienzufuhr auf diesem ersten Teil also auf die Verpflegungsstationen beschränken.
Als ich den Ort Lyss erreiche, laufe ich bereits knappe zwei Stunden durch die schwüle Juninacht. Dies ist ein wichtiger Ort, denn hier treffen (hoffentlich) die Läufer auf ihre Radbegleiter. Etwas verdutzt nehme ich das Chaos wahr, das sich links und rechts von mir abspielt. Hunderte von Zuschauer machen die Nacht zum Tag, dazwischen befinden sich immer wieder einzelne Radbegleiter, die auf ihre Läufer warten. Nervös reduziere ich das Tempo und scanne den Streckenrand nach Thomas ab, der eigentlich erst in 10 Minuten mit meiner Ankunft rechnet. In diesem Chaos jemanden zu finden ist so gut wie unmöglich. Muss ich die 100 Kilometer womöglich alleine bewältigen? Ich gerate etwas in Panik, so habe ich mir das nicht vorgestellt. Als ich fast am Ende des ganzen Tumults angekommen bin, entdecke ich Thomas, der dem Chaos etwas entflohen ist.
Von nun an geht es vorerst zu zweit weiter. Die anfängliche Müdigkeit ist überwunden und das ganz ohne Koffein. Ich fühle mich gut und renne fast schon etwas euphorisch durch die fast mondlose Nacht. Alle 25 Minuten nehme ich ein GU Roctane Energy Gel zu mir, dicht gefolgt von einem kräftigen Schluck Elektrolytegetränk. Ich bin froh jemanden wie Thomas an meiner Seite zu haben, dessen vollgepackter Rucksack so manche Verpflegungsstation in den Schatten stellen würde. Wir quatschen über alles mögliche während wir Kilometer für Kilometer hinter uns lassen. Von Langeweile ist keine Spur, vertieft in Männergespräche vergeht die Zeit wie im Flug.
Mit jedem Läufer an dem wir vorbei ziehen, steigt meine Motivation. In den Dörfern die wir unterwegs passieren, haben sich trotz der späten Stunde Zuschauer versammelt, um uns Läufer mit Applaus zu unterstützen.
Problemlos passieren wir Kilometer 50 und nehmen die zweite Hälfte in Angriff. Bis jetzt läuft es sehr gut, mein Tempo ist deutlich höher als geplant, hoffentlich halte ich das durch. Es dauert nicht lange, da melden sich auch zum ersten Mal meine Beine. Es sind keine besonders schlimme Schmerzen, doch ich fürchte, dass sich dies noch ändern wird. Ich beginne damit, die vor mir liegende Distanz in kleine Häppchen aufzuteilen: Noch ein paar Kilometer bis zum Ho-Chi-Minh-Pfad, danach sind es „nur noch“ 33 Kilometer, die schaffe ich dann auch noch irgendwie.
Bei Kilometer 56 verabschiede ich mich noch ein letztes Mal von Thomas, der bis Kilometer 67 einen Umweg nehmen muss. Dieser Abschnitt ist technisch etwas anspruchsvoller und deshalb für Radfahrer tabu.
Es ist immer noch stockdunkel als ich auf dem schmalen Pfad in das Waldstück einbiege. Von einem auf den anderen Moment herrscht absolute Stille. Keine grölenden Zuschauer weit und breit. Abseits von beleuchteten Straßen und Verpflegungsstationen folge ich mit nach unten gerichtetem Blick dem Pfad. Unterbrochen wird diese Dunkelheit nur durch kleine Markierungsleuchten, die in regelmäßigen Abständen signalisieren, dass ich noch richtig bin. Irgendwie fühle ich mich gut in diesem Augenblick und steigere mein Tempo. Vielleicht geht es auch einfach nur leicht bergab, was ich in der Dunkelheit jedoch nicht erkennen kann. Immer wieder tauchen in der Ferne die tanzenden Lichter anderer Läufer auf, die ich meist kurze Zeit später hinter mir lasse.
Verwundert laufe ich an den Radbegleitern vorbei, die bei km 67 warten. Ich habe gar nicht registriert, dass ich bereits 12 km zurückgelegt habe. Stolz erzähle ich Thomas, der über meine frühe Ankunft sichtlich überrascht ist, von den vielen Läufern die ich auf diesem Teilstück hinter mir gelassen habe.
Kurze Zeit später erhalte ich dafür auch prompt die Quittung. Von einem auf den anderen Moment fühle ich mich wie erschlagen. Die Schmerzen in meinen Beinen lassen sich nicht mehr einfach ignorieren. Mein ungezügelter Wortschwall, der auf den ersten 55 Kilometern noch herrschte, ist verstummt. Wenn ich nun etwas sage dann ist das meist: Ich brauche Wasser, oder ich brauche Gel. Apropos Gel, ich kann dieses klebrige Zeugs nicht mehr sehen. Ich brauche endlich was Richtiges zwischen den Zähnen! An der nächsten Verpflegungsstation stoppe ich kurz und greife mir einen Energieriegel, den ich mit einem Becher Pepsi hinunterspüle. Die genau geplante Ernährungsstrategie ist vergessen, 240 Kalorien pro Stunde hin oder her. Ich greife das, wonach mir gerade der Kopf steht und das sind momentan Riegel und Pepsi.
Mittlerweile hat auch Thomas bemerkt, dass sich bei mir etwas verändert hat. Mit den Worten
„Schmerz ist nur ein subjektives Empfinden“
versucht Thomas mich aufzuheitern und zu ermutigen weiter zu machen.
Thomas Hände sind schon ganz klebrig von den Pepsibechern, die er für mich transportiert. Als ob das nicht schon genug wäre, wird er an der nächsten Verpflegungsstation von einem Pepsi-Becher eines anderen Läufers erfasst, dessen Feinmotorik scheinbar schon etwas unter den Strapazen leidet.
Bei Kilometer 77 wird es noch einmal richtig hart, ein fieser Anstieg baut sich wie eine Wand vor uns auf. Die Läufer vor mir gehen hier hoch und sind dabei nicht langsamer als ich im Laufschritt. Trotzdem kämpfe ich mich, wenn auch nur langsam, aber laufend, diesen letzten Hammer hinauf. Nachdem dieser letzte Berg geschafft ist, findet auch die Nacht so langsam ihr Ende. Das Morgengrauen (zu diesem Zeitpunkt für mich wirklich ein Grauen) bricht heran. Die Landschaft um uns herum wird von Kilometer zu Kilometer klarer. Eine Bäckerei, deren Duft von frisch gebackenen Brötchen auf die Straße dringt, lässt meinen Magen rebellieren.
Es dauert nicht mehr lange bis zur 90 Kilometer – Marke. Meine Beine tun mittlerweile höllisch weh, jeder einzelne Schritt kostet Überwindung. Mir scheint als würden die Kilometer immer länger werden, mein Blick ist fast permanent auf meine Uhr gerichtet, deren Display scheinbar auf Zeitlupe gestellt ist. Ich versuche einen Fuß vor den anderen zu setzten und suche mir immer wieder kleine Ziele in meiner Umgebung, die ich mir vornehme zu erreichen. Unaufhörlich versucht mir mein Körper mitzuteilen: Ich kann nicht mehr hör doch auf, es ist genug! Es fällt mir äußerst schwer diesem Drang nicht nachzugeben. Doch ich habe mich nicht 90 Kilometer durch die ganze Nacht gequält um jetzt so kurz vorm Ziel aufzugeben.
Ganze 1,5 Minuten mehr Zeit, benötige ich mittlerweile für den Kilometer. „Genieß die letzten 10 Kilometer, bald hast du es geschafft“ sagt Thomas gelassen zu mir, doch an genießen ist nicht mehr zu denken. Genießen kann ich erst, wenn ich in den bequemen Sitzen von Thomas Renault versinken kann. Meter für Meter kämpfe ich mich mit schweren, schlürfenden Schritten weiter in Richtung Ziel. Nur noch ein paar Kilometer liegen vor mir. Ein letztes großes, fast unüberwindbares Hindernis, bäumt sich vor mir auf. Eine Brücke, die über eine kreuzende Straße führt, raubt mir bei km 98 auch noch das letzte bisschen Kraft in den Beinen. Jetzt ist es fast geschafft. Ein Kribbeln macht sich in mir breit und Freude steigt auf. Vor mir tauchen Straßenabsperrungen auf, die die Strecke beim Start von den Zuschauermengen abschirmte. Von diesen Zuschauermengen sind nur wenige hart gesottene übrig geblieben, oder wahrscheinlich schon wieder da. Kein Wunder, es ist ja auch 7 Uhr in der Früh. Die, die noch hier stehen, geben mir Beifall und feuern mich an. Ich kann es gar nicht richtig fassen als ich die Ziellinie überquere, alles wirkt irgendwie so surreal. Ich bin so glücklich und erleichtert, dass mir fast ein paar Tränen entweichen. Meine Zeitvorstellung von unter 10 Stunden, habe ich mit 8 Stunden, 54 Minuten und 24 Sekunden deutlich getoppt. Was für ein Erfolg!
Unmittelbar nach dem Rennen sind wir die 5 – stündige Heimreise angetreten. Nun sitzen Thomas, seine Freundin und ich, gemeinsam mit meinen Eltern zusammen und genießen die Pizza, welche meine Mutter zur Feier des Tages gebacken hat. Es gibt viel zu erzählen und zu lachen an diesem Abend. Eigentlich bin ich satt, doch ich schaffe noch zwei Stücke Linzer Torte, die ich mir für heute gewünscht habe.